2010-09-12

Das Schwaben-Gen

Warum Stuttgart 21 zutiefst unschwäbisch ist.


Jeder schwäbische Haushalt, der etwas auf sich hält, nennt eine Nähmaschine sein Eigen. Denn die Leintücher werden, wenn sie in der Mitte etwas fadenscheinig geworden sind, der Länge nach auseinandergeschnitten und an den äußeren Enden wieder zusammengenäht. Dann halten sich noch weitere 10 Jahre.

Diese für Außenstehende verwunderlich anmutende ressourcenschonende Einstellung scheint den Schwaben angeboren. Sie nennen es schlicht "Sparsamkeit", verwehren sich jedoch vehement gegen das Attribut "geizig", denn die schwäbische Sparsamkeit erwächst aus rein pragmatischen Überlegungen, nicht etwa aus einer unsinnigen Liebe zum Geld. Geld ist hierzulande Mittel zum Zweck: Die Erfüllung des kollektiven Traums aller Schwaben - das eigene "Häusle". Geld wird deshalb sparsam ausgegeben. Wichtige Anschaffungen werden trotzdem getätigt. Aber dann nur so viel, wie unbedingt nötig um den verfolgten Zweck zu erreichen. Im Falle des Leintuchs also: Lieber investiert man in eine Nähmaschine, die ein Leben lang hilft, kleinere Ausgaben zu vermeiden oder hinauszuzögern, anstatt ein Leben lang neue Sachen kaufen zu müssen. Da wird ganz genau gerechnet und abgewogen, bevor eine Investition beschlossen wird. Dann jedoch lässt sich der Schwabe auch nicht lumpen und achtet Qualität und Nachhaltigkeit höher als einen niederen Anschaffungspreis, denn er ist vorausschauend und bezieht die Instandhaltungskosten selbstverständlich in seine Überlegungen mit ein.

Eine weitere Besonderheit des Schwaben-Gens zeigt sich in der Maxime: "Man nimmt kein Geld von Fremden", denn fremdes Geld macht abhängig. Lieber spart der Schwabe ein halbes Leben lang, statt sich etwas auf Pump zu kaufen. Denn jeder, der schon einmal Geld bei einer Bank geliehen hat, weiß, dass er dieses Geld doppelt zurückzahlen muss, und andere Träume oder wichtige Anschaffungen umso länger warten müssen. Nicht aus Versehen ist das Schwabenland das Land der Bausparkassen: Hier haben sich die Häuslebauer in Zweckgemeinschaften zusammengeschlossen um ihr Gespartes optimal und proaktiv einzusetzen. Ein Beleg dafür, dass die Schwaben ihre Eigenbrötlerei gerne aufgeben, sobald diese dem urschwäbischen Interesse entgegensteht.

Auf Stuttgart 21 bezogen erscheint das Verhalten der Schwaben folglich sehr logisch. Zunächst waren die Schwaben ja Feuer und Flamme für das Projekt. Wenn schon der Bahnhof umgebaut werden muss, dann richtig, und keine halben Sachen. Dass sich das Ganze praktisch von alleine finanziert, hat sie leicht überzeugt. Dann jedoch haben Einige nachgerechnet, und die Zahlen widerlegt. Die Bahn hatte auch nachgerechnet und das Projekt 1994 als unwirtschaftlich abgehakt. Damit war für die Schwaben der Fall eigentlich erledigt.

Dann jedoch kam die Neuauflage, gesponsert durch massive Subventionen von Stadt und Land. Wiederum beschäftigten sich die schwäbischen Köpfe in ihrer langsamen und gründlichen Art mit dem Projekt. Unbehagen kam auf. Dem standen aber die altbewährten politischen Führer mit ihrer tiefen Überzeugung entgegen, dass alles bestens durchkalkuliert und geplant sei. Der Schwabe, verunsichert, begann weiter nachzuforschen. Dabei kamen nach und nach falsche Zahlen, dreiste Lügen und manch Anderes zu Tage. Der Schwabe, in seinem tiefen Inneren Demokrat und braver Bürger, forderte einen Bürgerbescheid, der ihm jedoch durch Taktieren und juristische Winkelzüge - ein rotes Tuch für den aufrechten Schwaben - verwehrt wurde.

Erst diese Ohrfeige der Regierenden an der Backe brachte die Schwaben zur Raserei. Das Schwaben-Gen forderte Vernunft und schwäbische Werte. Und jetzt schweißt die in Generationen von Häuslebauern erworbene Hartnäckigkeit die Schwaben in einem Protest zusammen, der keine Ruhe finden wird, bis das Projekt Stuttgart 21 ein schwäbisches sein wird: Eine vernünftige und zukunftssichere Investition, die den eigenen Mitteln entspricht.

Dass sie Schwaben durch ihren Protest die ganze Republik in Bewegung versetzen, gar den Lobbyismus ihrer wirtschaftsliberal verfilzten Politiker begraben, ist ihnen dabei egal. Hauptsache, der Bahnhof in Stuttgart wird nicht zum Milliardengrab für Geld, welches man gar nicht besitzt. Dafür wählen die Schwaben sogar Grün.

2 Kommentare:

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